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1933, 13. - 21. März

Boykottaktion Gießen, Tagebuch Georg Edward


s. Edward 2005
"8(h) S.107 f.
1933: 13. März (Mo) – Unerhörter Terrorismus der Sturmabteilung und der Schutzstaffel der Nationalsozialisten, die jetzt Polizeigewalt haben, was bedeutet, dass sie tun können, was ih-nen beliebt. Um 10 Uhr ging ich in die Stadt und fand alle jüdischen Warenhäuser auf Befehl dieser Burschen geschlossen, und es wurde erzählt, sie hätten am frühen Morgen die Juden aus den Betten geholt, sie zu ihrer Kneipe auf dem Seltersweg geschleppt, sie geschlagen und misshandelt und schliesslich gezwungen, einen Schein zu unterzeichnen, wonach sie erklär-ten, sie würden nichts gegen die neue deutsche Regierung unternehmen. Auf dem Seltersweg war ich Zeuge eines empörenden Schauspiels: Privatdozent Dr. Georg Meyer von zwei Dut-zend vulgär aussehenden, mit Flinten bewaffneten Burschen von der nationalsozialistischen Sturmstaffel eskortiert. Die Leute auf der Strasse schienen in der Mehrzahl mit dieser Brutali-tät einverstanden zu sein, nur wenige zeigten Überraschung oder Abscheu auf ihren Gesich-tern. Als ich meine Empörung offen aussprach, wurde mir sofort mit Verhaftung gedroht. Ich ging weiter in der Hoffnung, einen Polizisten aufzutreiben, aber keiner liess sich blicken. Auf dem Lindenplatz stiess ich auf Frau Werner Bock, der ich keinen geringen Schrecken einjag-te, als ich ihr erzählte, was ich gerade erlebt hatte. Ihr Mann war in die Stadt gegangen, um sich eine Pistole reparieren zu lassen. Also machte ich mich auf den Weg, um nach ihm zu suchen und ihn zu warnen, schaute in drei Banken, aber er war nicht zu finden. So ging ich zu Frau Bock zurück, wo ihr Gatte kurz nach mir eintraf ohne eine Ahnung von dem, was sich in der Stadt ereignete. – Nachmittags Besuch bei Irena Gail, wo ich Kaffee trank. Sie war em-pört über die Ereignisse am Morgen, solche Dinge könne man vielleicht verstehen, wenn sie vom russischen Pöbel unternommen würden, aber kein Mensch würde glauben, dass Deutsche sich zu so etwas hergeben könnten.

8(h) S.108
1933: 15. März (Mi) – Die SS und SA fuhren mit ihren Terrorakten während der verflosse-nen beiden Nächte fort. Sie misshandelten Juden und Sozialdemokraten auf schändliche Wei-se. Unerhörte Reden des Ministers Goebbels und anderer ähnlicher Kreaturen: die Juden wer-den „Schweine, die verrecken müssen“, genannt. Jede Nacht hört man schiessen.

8(h) S.108 f.
1933: 18. März (Sa) – Die Schreckensherrschaft der Hitler-Banditen breitet sich weiter aus. Sie und die neue Regierung, an deren Spitze Hitler, Goebbels, Göring und andere stehen, ter-rorisieren Theater, Konzerte und sogar Musikschulen. Bücher werden wohl nächstens an die Reihe kommen. Alles beweist, dass Ignoranz und Proletarionismus die Herrschaft an sich gerissen haben. – Rita schreibt, sie beabsichtige, am nächsten Mittwoch mit ihrem Onkel nach Giessen zu kommen, der hier geschäftlich zu tun habe. Sie will wissen, ob wir uns treffen können.

8(h) S.109
1933: 21. März (Di) – Nehme am Feldgottesdienst der hiesigen Garnison im Hof der Neuen Kaserne teil, der zur Feier der neuartigen Regierung abgehalten wird. Ich ging aber nur hin, um mir die heutige Armee anzusehen. Was für ein Unterschied zwischen dieser und dem Heer zur Zeit des Kaiserreichs! Ausserdem verderben einem die SS und SA in ihren hässlichen braunen Uniformen die Freude an dem Ganzen. Oberst von Wachter hielt eine lange Anspra-che, wobei er die neue Regierung in den Himmel hob und die Soldaten mit präsentiertem Ge-wehr dastehen mussten. In der Stadt sieht man überall die schwarz-weiss-rote Fahne. Abends ging ich mit Guti Wagner auf den Seltersweg, um den Fackelzug mitanzusehen, der den Sieg Hitlers feiern sollte. Aber es war keine Freude. Die Nationalsozialisten brüllten empörende Lieder: „Wenn Judenblut vom Messer springt“, „Hängt den Jud‘ an die Wand!“ und „Der Jud‘ muss naus!“ Guti Wagner sagte: „Das ist wohl die neue Kultur?“, worauf ein Nationalsozialist ihr mit seiner Fackel ins Gesicht leuchtete und antwortete: „Dafür werden Sie mir büssen!“ Die schändlichen Brutalitäten der Nationalsozialisten nehmen im ganzen Lande zu und wer-den von Tag zu Tag scheusslicher. Viele Leute sind von Hitlers Banditen getötet worden, an-dere zu Krüppeln geschlagen worden. Und kein Mensch hebt einen Finger, um zu helfen oder zu protestieren."

Kategorie:  Chronologie
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