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Schl.2004 - Lebenserinnerungen von K.E.Seelbach

1923-1998

Text: Mendelsohn und die Nazis


Eine Anekdote erzählt folgende Begebenheit:
Im Haus, das an der Stelle des heutigen Schuhhauses Darré (Seltersweg Ecke Selterstor) stand, war ursprünglich das Pianohaus Rudolph untergebracht. Wohl aus diesem Grund waren auf großen Medaillons in den Fensterbrüstungen im 2. Stock Portraits der Musiker Liszt, Mendelsohn und Wagner angebracht.
Als nun der NSKK (Nationalsozialistischer Kraftfahrerkorp) Räume in dem Gebäudekomplex bezog, wurde verlangt, dass das Portrait des Juden Mendelsohn entfernt werde. Ein Steinmetz führte die Arbeit aus. Als jedoch das Gerüst weggeräumt war wurden der NSKK gefragt, warum man denn den Kopf des Hitleridols Wagner habe abschlagen lassen. Die Nazis zitierten den Steinmetz herbei und dieser erklärte sein Tun: er habe den Kopf mit der jüdischen (nach Nazi-Lehrmeinung = längsten) Nase abgehauen...
Das Gerüst mußte wieder aufgestellt werden und nun wurde das Portrait von Mendelsohn abgeschlagen. Soweit die Anekdote.
Manch einer der Nachkriegsgeneration, der die Anekdote hörte, wird sich gefragt haben: War so viel Dummheit möglich?
Eine erst im Zuge der Recherchen zu diesem Band entdeckte Bilderreihe von drei Fotografien beweist: Sie war möglich!
Das erste Foto zeigt das NSKK-Heim-Transparent am Nebengebäude des ehemaligen Musikhauses Rudolph. Der Wagnerkopf in der 4. Fensterachse des Haupthauses ist schon entfernt, List und Mendelsohn in der 2. und 3. Fensterachse dagegen unversehrt.
Die zweite Aufnahme wurde zum selben Zeitpunkt aufgenommen, aber aus kürzerer Distanz. Sie zeigt, dass unter den Simsen, die sich unterhalb der Portraits befinden, auch die Namen der Portraitierten dargestellt waren. So ist zu erkennen: In dem leeren Medaillon-Feld muss ein Bildnis des Judenhassers mit der angeblich “jüdischen” Nase angebracht gewesen sein. Es bleibt der Fantasie des Lesers überlassen, wieso der Steinmetz die Namenszüge übersehen konnte.

Das dritte Foto ist wieder aus größerer Entfernung, vermutlich mit einem Teleobjektiv aufgenommen. (War es jetzt angeraten, dass das Fotografieren der Hauswand nicht mehr bemerkt wird?). Dieses Foto zeigt uns die weitere Geschichte: Jetzt fehlt auch das Bildnis Mendelsohns, wobei hier nun außerdem der Schriftzug “Mendelsohn” abgeschlagen wurde.
Indem man aber gleichzeitig auf der rechten Seite des “arisierten” Mendelsohn-Feldes den geliebten Namen des Judenhassers Wagner unter dem leeren Portraitfeld stehen ließ und auf der linken Seite Liszt samt Namenszug zu sehen ist, blieb für kurze Zeit das Ganze ein steinernes Denkmal nationalsozialistischer Borniertheit.
Dieses nun an der Hauswand sichtbare Zeugnis rassistischer Ideologie konnte jedoch nicht lange - je nach Standpunkt - Freude oder Zorn der Betrachter hervorrufen. Im Strudel des Untergangs des NS-Regimes und seines rassistischen Größenwahns wurden auch Gießen und dieses Haus zerstört.
[Quelle der Anekdote: StAG, Nachlass Walter Deeg, Abschrift eines Artikels aus “Die Einheit” 1.5.1946 (Zeitung der KPD).
Quelle der Fotos: Nachlass Rösch, Wirtschaftsarchiv Darmstadt]

Kategorie:  Bibliographie
Filter:   *  1914-18-45/ WK I-II /NS * Gießen *