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Schl.2004 - Die Oma war noch gar nicht aus dem Bett
Brief Reinig an Enkel - Auszug aus Schl.2004, 38

1945 / 2004

(Faksimilé der 6 Briefseiten in Schl.2004 S.38f.)

Titel: “Die Oma war noch gar nicht aus dem Bett ... “
Andreas Reining, Prokurist der Gießener Brauerei, schreibt im Januar 1945 an seine Enkel.

Lich, 2. Januar 1945
Liebe Gretel & Kinder!

Anfangs Dezember v[ergangenen] J[ahre]s hatten wir von Eurem Papi einen Brief bekommen, und es war unsere Absicht, mit der Beantwortung dieses Briefes auch gleichzeitig an Euch zu schreiben. Ich kam aber leider nicht mehr zum schreiben, denn mit Beginn des Monat Dezember brach das Unheil über uns herein. In der Nacht vom 2. zum 3. Dezember gegen 1 Uhr wurden wir durch plötzlichen Fliegeralarm aus den Betten geworfen. Aber kaum dass ich Licht gemacht und mit dem Anziehen begonnen hatte, die Oma war noch garnicht aus dem Bett, fielen auch schon die ersten Bomben und Sprengminen. Wir rafften unsere Kleider zusammen und begaben uns so schnell als möglich in den Keller. Kaum dort angelangt, erfolgten auch bereits Detonationen ganz in unserer Nähe und wir hörten dass auch bei uns im Haus die Fensterscheiben zerbrachen. In dieser Nacht sind nur wenige Brände entstanden, in der Hauptsache brannte es am Kreuzplatz, Kaplansgasse und Seltersweg bei Winterhoff, Hammermann und Geisse. Andere Gebäude wie die Loge, die alte Bürgermeisterei, das Gaswerk und noch einige andere Häuser in der Stadt wurden durch Minentreffer vernichtet. Der Glasschaden in der Stadt war ganz beträchtlich, denn fast alle Erkerscheiben und auch der grösste Teil der Fensterscheiben waren vernichtet. Wir waren froh, mit Glasschaden und einigen Beschädigungen an den Türen und Fenstern davongekommen zu sein, und gingen am anderen Tage gleich daran, die entstandenen Löcher mit Pappe zu verkleiden, sodass wir unsere Wohnung weiterbenutzen konnten. Allerdings konnten wir uns nicht lange dieses, eines noch annehmbaren Zustandes erfreuen.

Am Mittwoch, den 6. Dezember, abends gegen 8 Uhr ertönten wiederum die Alarmsignale. Kaum im Keller angelangt entlud sich über uns ein Terrorangriff feindlicher Flieger, wie ihn wohl kaum eine andere Stadt je erlebt hat. In die vielen geworfenen Sprengbomben prasselten unaufhörlich viele viele Tausende von Brandbomben und Phosphorkanister: Was die Sprengwirkung der Bomben nicht klein brachte, wurde durch Brand vernichtet. Es war im Augenblick des Angriffs in der Stadt taghell. Gerade in unserer Gegend hatten die Brandbomben eine verheerende Wirkung. Die Turnhalle, in der große Mengen Strohsäcke aufgestapelt waren, brannte sofort lichterloh. Dazu kam, dass ein starker Sturm herrschte und sich durch den Funkenflug ein einziges Feuermeer bildete. Bei uns im Haus brannte es, als wir den Luftschutzraum verlassen konnten schon sehr stark im Dachgeschoss und besonders auch im Treppenhaus. Ich bin trotzdem noch einmal die Treppe hinauf in unsere Wohnung, habe die bereits vom Feuer bedrohten Vorhänge abgerissen und noch einiges Bettzeug herausgebracht, aber dieses fing zum Teil auf der Treppe noch Feuer, so dass ich dann nicht mehr in die Wohnung konnte, ohne Gefahr zu laufen, dass das Feuer von oben auf mich fiel. Und so ist denn das ganze Haus innen ausgebrannt, ohne dass eine Möglichkeit bestanden hätte, irgend etwas retten zu können. Wir haben alles, aber auch alles verloren, bis auf einige Oberhemden von mir, die sich im Keller in einem Koffer befanden und einigen meiner Anzüge, die ebenfalls im Keller hingen.

Ausser ihren 2 Mänteln, besitzt die Oma nur noch das Kleid und die sonstigen Wäschestücke, die sie gerade auf dem Leibe trug. Es war eine fürchterliche Nacht. Die ganze Stadt ein Flammenmeer, dazwischen die vielen Tausende von Menschen die ebenso wie wir nichts mehr besassen, und nur noch das Bestreben hatten, so schnell als möglich aus der Stadt zu kommen. In unserer Nachbarschaft gibt es kaum noch ein Haus. Die ganze Steinstrasse mit den Nebenstrassen, Neustadt, Marktstrasse usw. bilden nur einen einzigen Trümmerhaufen. Die gesamten Schulen im Nordviertel, die Feuerwache, Turnhalle u.s.w. sind ausgebrannt. Weniger mitgenommen wurde in dieser Nacht das Südviertel. Besonders die Ludwigstrasse, Stephanstrasse, Bruchstrasse u.s.w. waren noch gut erhalten geblieben. Wir hatten noch keine Gelegenheit Deine Schwiegereltern zu sprechen, hörten aber, dass das Haus noch steht, und dass sie auch ihre Wohnung noch benutzen konnten. Schwere Schäden haben auch Kaiserallee, Ludwigsplatz, Licherstrasse u.s.w. davongetragen. Unser Haus in der Licherstrasse, von dem das Hinterhaus abbrannte, steht noch, kann aber nicht mehr bewohnt werden, da alle Türen und Fenster und ganze Mauerstücke herausgeflogen sind.
Am 10. Dezember erfolgte dann noch ein schwerer Tagesangriff bei dem allein 9 Teppiche schwerer Sprengbomben über die Stadt und Umgebung abgeworfen wurden. Dieses mal fielen in der Licherstrasse noch einige Bomben, die Hauptsache entlud sich aber über die bisher ziemlich verschonten Stadtteile, Ludwigstraße, Kliniksviertel und Güterbahnhof, so dass dort schwere Schäden entstanden. Diesen drei Angriffen sind auch einige hundert Menschen, besonders auch in Kleinlinden zum Opfer gefallen. In unserer Gegend habe ich von Todesfällen direkt nichts gehört, da wir in der Hauptsache mit Brandbomben bedacht wurden und die Keller fast alle standhielten. Umgekommen ist Mia Stahl und Otto Wenzel in der Brandgasse, die beide die Absicht hatten in nächster Zeit nochmals zu heiraten.

Mit unseren geretteten Habseligkeiten lagen wir erst längere Zeit mitten auf dem Osswaldsgarten, bis die Funken so stark wurden, dass es nicht mehr auszuhalten war. Wir sind dann in das Bedürfnishäuschen vorn an der Ecke und haben da einige Stunden verbracht. Inzwischen waren wir schon von Anneliese und ihren Schwiegereltern gesucht worden, doch hatten wir sie nicht wahrgenommen. Später kamen sie dann in das genannte Häuschen und wir sind, nachdem wir die geretteten Sachen dorthin verbracht hatten, auch in die Krofdorferstrasse in den Luftschutzkeller und haben da den Rest der Nacht verbracht. Am Nachmittag dieses Tages sind wir dann mit einem Auto der Brauerei, die auch schwer getroffen wurde, nach hier zu Erika gefahren, wo wir uns jetzt aufhalten. Karli hat uns sein Wohnzimmer zur Verfügung gestellt, und von der Prinzessin Helene von Lich erhielten wir 2 Betten sowie einige andere Möbelstücke, so dass wir wenigstens wieder einen Schlafraum haben. In der Krofdorferstrasse ist das Vorderhaus noch erhalten geblieben, wenn es auch stark beschädigt wurde. Dagegen ist da Hinterhaus mit der Wohnung von Anneliese auch ausgebrannt. Anneliese hat dabei auch einen grossen Teil ihrer Einrichtung verloren, wenn sie auch doch mehr im Keller aufbewahrt hatte als wir. Willi war vor dem ersten Angriff in Urlaub in Giessen und war gerade den Tag vorher wieder abgefahren. Nach dem zweiten Angriff hatte er nochmals 1/2 (?) Tage Bombenurlaub ist aber vergangene Woche wieder fort. Anneliese mit den Kindern und ihre Schwiegereltern wohnen z. Zeit bei den Eltern eines ihrer Lehrlinge in Rodheim a.d. Bieber. In Giessen halten sich nur noch wenige Menschen auf, es ist auch wegen des Mangels in Licht, Wasser, und allen sonstigen Gebrauchsartikeln sehr schwer, dort zu leben. Dazu kommen die andauernden Fliegeralarme und die große Kälte der letzten Tage. Auch sind die Transportverhältnisse sehr schwierig, sodass man nur mit Mühe nach Giessen und zurück kommen kann. Gesundheitliche Schäden haben wir Gott sei Dank nicht davon getragen. Die Oma fühlt sich hier auch recht wohl.
Zum Schluss will ich Euch noch die Neuigkeit übermitteln, dass Helga, Doris und Günter am 26. Dezember ein Brüderchen bekommen haben.
Mutter und Kind befinden sich wohlauf. Indem wir Euch ein glückliches neues Jahr wünschen, hoffen wir dass Euch die Schrecken der feindlichen Luftangriffe erspart bleiben mögen.
Wir werden uns freuen, bald wieder etwas von Euch zu hören und verbleiben bis dahin mit den herzlichsten Grüssen und Küssen

Eure Oma & Opa

An Euren Papi werde ich diese Woche auch noch schreiben.


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